18-Jährige mit dem sozialen Reifegrad eines Kleinkindes
Psychiater Michael Winterhoff zeichnet in seinem Buch „Deutschland verdummt“ ein düsteres Bild des Bildungssystems. Dessen Umkremplung vor 20 Jahren habe dazu geführt, dass jungen Menschen heute wesentliche soziale Kompetenzen fehlten. Einige 18-Jährige hätten die psychische Reife eines Kleinkindes, sagte er in einem Interview im DLF.
Michael Winterhoff im Gespräch mit Thekla Jahn entweder hören oder lesen …
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LESEN – Interview von Thekla Jahn mit Michael Winterhoff
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Thekla Jahn: Die Ergebnisse der Europawahl vor einer Woche haben es in Deutschland nochmal ganz deutlich gemacht: Jungen Wählern brennt vor allem der Klimaschutz auf den Nägeln. Aber gleich danach kommen schon die Bildungs- und Sozialpolitik. Da scheint so einiges verbesserungswürdig. Da passen die zugespitzten Thesen von Michael Winterhoff gut, um einen öffentlichen Diskurs über das Bildungssystem zu beginnen: Das Bildungssystem verbaue unseren Kindern die Zukunft meint der Kinder- und Jugendpsychiater und betitelt sein neues Buch mit dem plakativen Satz „Deutschland verdummt“.
Dr. Michael Winterhoff, uns telefonisch zugeschaltet – Deutschland verdummt – ist das nicht ein bisschen dick aufgetragen?
Michael Winterhoff: Ja, das ist schon ein heftiger Titel, meine Frau war auch dagegen, aber es geht wirklich darum, etwas bewegen zu wollen, denn es ist doch tragisch, dass wir in einem Land leben, in dem heute schon 50 Prozent der Heranwachsenden nach Schulabschluss große Probleme haben.
Ja, wenn Sie sich mal heute Praktikanten angucken oder Auszubildende, was vielen fehlt, sind sogenannte Soft Skills, das wäre Arbeitshaltung, Sinn für Pünktlichkeit, Erkennen von Strukturen und Abläufen, das Handy ist ihnen wichtiger als der Kunde, der vor ihnen steht, und über all das, was sie mal gelernt haben, können sie nicht verfügen.
„Man hat den Kindern die Beziehung genommen“
Jahn: Was läuft denn schief in den deutschen Klassenzimmern, dass genau das Ihre Analyse ist?
Winterhoff: Ja, was schiefläuft ist, dass das Bildungswesen vor 20 Jahren umgekrempelt wurde auf Betreiben der OECD und von Ideologen, die über die Bildungspolitik das durchgesetzt haben. Das heißt, Lehrer sind nicht gefragt worden, Eltern nicht informiert worden. Und es geht um die Ideologie, die Vorstellung, Kinder könnten autonom lernen und sind auf sich gestellt letztendlich, also man hat den Kindern die Beziehung genommen – sehen Sie zum Beispiel daran, dass wir im Augenblick die beste Kita Deutschlands prämiert haben mit 25.000 Euro. Das ist eine Kita, die Funktionsräume hat, Tobe-Raum, Bastel-Raum, Café, einen Theater-Raum und vieles mehr, und die Kinder können sich dort frei bewegen und können auch sich frei entscheiden, was sie machen.
Jahn: Aber das hört sich doch erst einmal gut an.
Winterhoff: Sie sprechen mit einem Kinderpsychiater, der psychoanalytisch ausgebildet ist – für den ist das eine Katastrophe.
Impulskontrolle muss durch soziale Interaktion erlernt werden
Jahn: Weshalb?
Winterhoff: Also wir haben eine Grundintelligenz, die haben wir mitgebracht, und wir haben eine erworbene Intelligenz, und wir sind großgeworden in einer Zeit, in der sich diese emotionale und soziale Intelligenz enorm bilden konnte: Also wenn ich jetzt mit Ihnen spreche, ist völlig egal, ob ich Hunger habe, ob ich Durst habe, ob ich müde bin, ob ich Lust habe, was ich alles heute erlebt habe, wie es mir persönlich geht. Alle Impulse, die in mir sind, muss meine Psyche zur Seite drängen, damit ich mich auf Sie einstellen kann, das können Sie genauso wie ich – und 100.000 Leistungen mehr. Und diese Leistungen können sich nur bilden an der Orientierung an den Bezugspersonen, und wenn wir jetzt den Kindern die Bezugspersonen nehmen, was wir ja schon lange tun, sowohl im Kindergarten als auch in der Grundschule, kann sich diese Psyche nicht bilden.
Und dann muss man sich nicht wundern, dass wir heute schon so niederschmetternde Ergebnisse haben beim Übergang Schule, Beruf, denn da ist ja genau der Punkt, wo sich herausstellt: Haben wir alles richtig gemacht oder nicht?
Jahn: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, die Entwicklung der Psyche ist nur durch die Auseinandersetzung mit der menschlichen Umgebung möglich und dabei braucht es Orientierung, Hilfestellung?
Winterhoff: Ja, es ist so, Psyche, Leistung, also zum Beispiel soziale Fähigkeiten oder Arbeitshaltung, das sind Fähigkeiten, die müssten von klein auf eingeübt und abverlangt werden, also sie kommen nicht von alleine. Wenn ich aber Kinder auf sich gestellt lasse, dann leben sie quasi wie Kleinkinder in der Vorstellung: Ich kann alles bestimmen, ich kann alles steuern, ich muss mich auf niemanden einstellen und ich lebe nach Lustimpulsen. Und deshalb bleiben die da stehen.
Jahn: Jetzt haben Sie diagnostiziert, wenn ich es richtig verstanden habe, dass das eine Problem ein, ja, ein bisschen fast schon autistisches Verhalten der Kinder ist, die keine Orientierung haben, die sich selbst orientieren müssen, was sie offenbar nicht können. Auf der anderen Seite sagen Sie aber in Ihrem Buch: Es gibt eine Verdummung in Deutschland. Das heißt ja, nicht nur die sozialen Kompetenzen und die emotionalen Kompetenzen fehlen, sondern auch inhaltlich fehlt einiges. Warum?
Winterhoff: Also für mich geht es maßgeblich um Verdummung unter dem Aspekt der nicht-entwickelten psychischen Reife. Ich habe ja jeden Tag hier mit Kindern, auch mit Jugendlichen zu tun, bin übrigens viel unterwegs, spreche ja sehr viel mit Lehrern, halte viele Vorträge auch in Österreich und in der Schweiz, überall das gleiche Bild. Es ist einfach so: Wenn Sie einen 18-Jährigen haben, der den Reifegrad emotional und sozial eines Kleinkindes hat, dann ist der nicht lebenstüchtig. Der ist gegen …
„Mit dem können Sie wunderbar reden, aber es hat keinen Effekt“
Jahn: Das hört sich jetzt natürlich hart an. Also wenn Sie sagen, ein 18-Jähriger hat die Psyche eines Kleinkindes – was meinen Sie genau damit?
Winterhoff: Es ist immer die Frage, wie habe ich die Sicht? Habe ich die Sicht, bin ich umsichtig, weitsichtig, vorausdenkend, kann ich in die Zukunft gucken, kann ich Verantwortung übernehmen für mich, kann ich Verantwortung übernehmen für andere und viele Leistungen mehr, und die werden dann von einem solchen 18-Jährigen nicht erbracht. Der lebt dann lustorientiert, viele dann heute im Computer drin und kommen gar nicht so weit auch im Denken, dass es um ihr eigenes Leben geht, um die Zukunft in ihrem Leben geht. Mit dem können Sie wunderbar reden, aber es hat keinen Effekt.
„In einer Grundschule und in einem Kindergarten brauche ich digitalfreie Oasen“
Jahn: Das heißt also, Kleinkind-Psyche bedeutet, jemand, der sich um sich selber dreht. Sie haben eine weitere These Ihres Buches: Die Grundschule muss eine digitalfreie Zone sein. Gerade wird ja viel über die digitale Rückständigkeit der deutschen Schulen gesprochen. Der Digitalpakt ist verabschiedet, 5,5 Milliarden Euro sollen jetzt in die Digitalisierung der Schulen fließen. Kommt Ihre These da nicht sehr rückständig daher?
Winterhoff: Also wir sind in einem Land, in dem wir oft in vieler Weise im Wahn sind, auch im digitalen Wahn sind. Das heißt, die Digitalisierung ist doch nur eine Technik, und mit der werden junge Menschen noch besser umgehen können als ältere Menschen. Und wir brauchen nicht Menschen, die die anwenden, das ist sowieso sehr einfach, sondern die kreativ sind und darüber verfügen, was man mit der Technik machen kann. So. Wenn es um die Entwicklung geht des Kindes, dann würde das Kind erst mal mit den Wahrnehmungsorganen die Welt wahrnehmen, auch haptisch wahrnehmen, und wenn ich jetzt schon das Kind im Kindergarten programmieren lasse oder in der Grundschule, dann geht es in das Gerät rein, ich brauche aber den psychischen, menschlichen Kontakt. Ich spreche nicht gegen eine Digitalisierung, sondern die Frage ist, wann macht was Sinn? Auf der weiterführenden Schule macht ein sehr guter Informatikunterricht Sinn, die Kinder sollen dort wirklich Programmsprache und Programmieren lernen, und in manchen Unterrichtseinheiten macht es auch Sinn. Aber in einer Grundschule und in einem Kindergarten brauche ich digitalfreie Oasen.
Diese Geräte haben eben die große Gefahr: Man kann alles sofort haben, man kann wegwitschen, wenn es mir zu schwer ist. Das entspricht letztendlich quasi der Säuglingsphase. Das heißt, wenn Kinder viel in diesen Geräten sind, dann können sie auch deshalb sich nicht entwickeln, und auch die Bewegung wird sehr reduziert, es sind dann nur noch Kinder, die im Moment leben.
Jahn: Wenn ich Ihre Rundum-Kritik einmal versuche, auf den Punkt zu bringen: Sie wollen also wieder alles zurückdrehen, also Frontalunterricht des Lehrers, der vor der Tafel oder demnächst vor dem Whiteboard steht?
Winterhoff: Jetzt passiert das, was wahrscheinlich vielen passieren wird, dass sie wieder Frontal und Gruppe meinen. Noch mal sehr klar: Wie man unterrichtet, ob frontal oder auch in Gruppeneinheiten, das ist nicht mein Thema. Mein Thema ist, dass das Kind auf sich gestellt ist. Das heißt, wenn Sie in Gruppen arbeiten, das ist nicht mein Thema.
Jahn: Das heißt, Ihre Kritik ist die Kritik am Konzept des autonomen Lernens.
Winterhoff: Das autonome Lernen heißt, ich brauche keinen Lehrer, ich brauche keinen Erzieher, ich regele das selbst. Seit 20 Jahren, das habe ich ja sehr gut recherchiert, ist das so.
„Es ist so dramatisch. Die Lehrer haben einen Maulkorb aufbekommen“
Jahn: Jetzt sagen Sie gerade, Sie haben es gut recherchiert. In Ihrem Buch schreiben Sie auch, dass viele aus diesem Bildungsbereich sich auch an Sie gewandt haben. Aber Sie haben keinen erwähnt im Buch, da diese Experten, wie Sie schreiben, aus Angst vor Nachteilen im Beruf nicht namentlich genannt werden sollen. Ist es wirklich so dramatisch?
Winterhoff: Es ist so dramatisch. Die Lehrer haben einen Maulkorb aufbekommen. Ein Lehrer, der heute klar sagen würde, wie die Verhältnisse an seiner Schule sind, in der Klasse sind, bei den Kindern sind, der wird danach sehr, sehr viel Druck erfahren, und deshalb: Ich habe sehr viele Lehrer, die bereit waren, mir Material zu geben, auch zum Interview zur Verfügung zu stehen, aber immer darauf bestanden haben, dass sie anonym bleiben.
Winterhoff: Wir brauchen eine Bildungsoffensive
Jahn: Fassen wir das kurz zusammen: Sie fordern eine groß angelegte Bildungsoffensive. Was genau meinen Sie damit? Also wer muss alles mit ins Boot und auf welcher Bildungsroute soll es zu welchem Zielhafen gehen?
Winterhoff: Also ich hoffe, dass viele Erwachsene heute die Politik auffordern, etwas zu tun, das ist Grundlage, sonst wird sich nichts verändern. Zu einer Bildungsoffensive brauche ich Lehrer, die engagiert sind und bereit sind, darzustellen, wie die Probleme sind, dass man jetzt in Ruhe überlegt: Was können wir tun, damit die Kinder in fünf, sieben oder zehn Jahren andere Voraussetzungen haben? Es gibt dazu super Vorbilder die ich gesehen habe in der Schweiz und auch gesehen habe in Südtirol, wie man wirklich die Kinder von heute so fördern kann, dass alle klarkommen und später im Leben über diese emotionale, soziale Psyche verfügen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Das autonome Lernen und digitale Medien hätten dazu geführt, dass jungen Menschen heute Soft Skills wie vorausschauendes Denken, Arbeitshaltung und soziales Miteinander fehlten, sagte der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff im DLF (picture-alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
Quelle : Deutschlandfunk 2019/07
weiterführende Literatur:
Jürgen Kaube, Großer Unfug
weiterführende Literatur (1) zum gleichen Thema : Jürgen Kaube in der FAZ 2019/07 mit “Großer Unfug” und
Manfred Spitzer, Digitale Demenz
weiterführende Literatur (2) zum gleichen Thema : Manfred Spitzer (Autor) mit dem Buch “Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen Taschenbuch” erschienen 1. Oktober 2014
2018-2024